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Das „Schicksal“ der Menschen und der Nationen

Es ist wissenschaftlich bewiesen, daß kein Gesetz der Natur völlig verstanden werden kann, wenn es nur für sich allein behandelt wird. Nehmen wir zum Beispiel die Schwerkraft. Dieser Ausdruck bedeutet die unter diesem Namen bekannte Art der Anziehung und nicht nur irgendeine Formel, die erfunden wurde, um sie zu beschreiben. Wenn wir sagen, das 'Gravitationsgesetz' ziehe alle materiellen Dinge zur Erde hin und diese Eigenschaft als ein unbeugsames, unabhängiges Prinzip betrachten, und wenn wir dann emporschauen und sehen, daß das Dach über uns dieser Regel scheinbar spottet, - leugnen wir dann die Gültigkeit dieses Gesetzes? Oder werden wir das Ineinandergreifen zahlreicher anderer Gesetze erkennen, durch deren Gebrauch es der Mensch fertig bringt, den natürlichen Lauf der Gravitation eine Zeitlang aufzuhalten. Dadurch verletzt er das Gesetz nicht, sondern hält nur die Wirkungen seiner unaufhörlichen Tätigkeit zurück, indem er die Tendenz durch Tätigkeit anderer grundlegender Faktoren wie Adhäsion, Kohäsion, Entspannung und Spannung usw., die wir beim Bau der einfachsten Form eines Gebäudes benutzen, ausgleicht. Wenn das Gebäude fertig ist, steht es durch die natürlichen Prinzipien und nicht dem Gravitationsgesetz entgegen, das deshalb nicht aufhört zu funktionieren: sein Wirken wird nur eine Zeitlang aufgehalten. Und wenn der Bau schließlich zusammenfällt, geschieht es nicht auf Grund einer Laune des Gravitationsgesetzes noch ist es plötzlich zu Hilfe gerufen worden, um eine seltsame Erscheinung zu erklären. Wir wissen, daß es die ganze Zeit über unsichtbar wirksam war, bis es den Widerstand der bei der Konstruktion benutzten Materialien überwinden konnte.

Ebenso ist es ein Unsinn, zu sagen, daß alles, was dem Menschen zustößt, das Resultat irgendeines einzelnen Gedankens oder einer bestimmten Handlung ist; aber zu erkennen, daß alles, was auf ihn zukommt, sein Karma ist, - das heißt das Endergebnis all dessen, was er ist, all seiner Gedanken und "Handlungen" während seiner endlosen Vergangenheit - ist eine ganz andere Auffassung. Wenn wir auf diese Weise von Ursache und Wirkung oder von Karma sprechen, sprechen wir von einem Prinzip oder einem Gesetz in der Natur, das auf jede Handlung mit einer Rückwirkung antwortet, und nicht von einer von Menschen erfundenen Theorie, um in ihrem Leben beobachtete, sonst unbegreifliche Tatsachen zu erklären. Mit dem Ausdruck "Naturgesetz" ist die geordnete Weise gemeint, in der das Universum arbeitet.

Es scheint unvermeidlich zu sein, daß sich die jedem Teilchen des Raumes innewohnenden Kräfte, soweit wie möglich, ihrem angeborenen Charakter entsprechend, offenbaren müssen. Es ist auch einleuchtend, daß die Menschen aus einer Vielzahl von Lebenskräften kosmischen Ursprungs zusammengesetzt und als solche keine abgesonderten Wesenheiten sind, es sei denn, daß sie sich selbst so scheinen. In Wirklichkeit sind alle Wesen und Dinge voneinander abhängig und bilden unermeßbar verwickelte Gruppierungen, die ihr Spiel mit den Atomen der Natur treiben und sie zu Verbindungen zusammenfügen, die wir als die Welt um uns kennen. Genauso wie eine Nation aus den verschiedenartigsten Komponenten besteht, ist der Mensch aus zahllosen kleineren Leben aufgebaut. Wenn wir daher das Wirken von Karma studieren wollen - individuell, national oder rassisch - müssen wir darauf vorbereitet sein, es fast unmöglich zu finden, die Fäden der individuellen Beziehungen von Ursache und Wirkung aus dem komplexen Schicksalsgewebe zu entwirren, das durch irgendeine Gruppe oder Vereinigung, von der sie ein Teil sind, gewoben wurde. So leuchtet es ein, daß es für kein menschliches Wesen so etwas wie ein vollkommen abgesondertes Dasein gibt, außer in der Einbildung, in der sich der Egoismus mit dem Traum des Sonderseins selbst betrügt.

Genau herauszufinden, welches Maß an Verantwortlichkeit jemand trägt, würde deshalb übermenschliche Geschicklichkeit zum Entwirren des Netzwerkes aus Einflüssen, Trieben, des sich widerstreitenden Wollens und der Wünsche anderer Menschen in ihrer individuellen oder kollektiven Beziehung auf die in Frage stehende Person erfordern. Das Maß der Verpflichtungen des Einzelnen zu bestimmen, ist schwierig; aber die Grenzen der moralischen Verantwortlichkeit festzulegen, würde die Fähigkeit jeder Durchschnittsintelligenz übersteigen. Es liegt jenseits des Bereichs unseres Gemütes, zu entscheiden, wo jemand vom Einfluß anderer absolut frei ist, gar nicht zu sprechen von den Einwirkungen sozialer Abmachungen und rassischer Bedingungen, an denen wir alle teilhaben müssen. Das Schicksal einer Nation beeinflußt jeden ihrer Bürger. Ihr Karma wird ebensogut wie bei anderen Nationen und Rassen, von all ihren Gliedern geteilt, und wer kann sagen, wo für einzelne Handlungen die Verantwortlichkeit liegen muß, wenn alle Leben so miteinander verbunden und alle Gedanken gemeinsames Eigentum sind?

Beständig besteht der Einwurf, daß die Idee von einer universalen Ursache und Wirkung die Barmherzigkeit tötet und mitleidlos macht. Eine solche Vorstellung ist eine falsche Darstellung, denn Karma ist weder die Rache oder die Gunst eines Gottes noch ist es einfach die mechanische Folge früherer Ursachen. Wie die Saat, so die Ernte, aber wir müssen uns hüten, die Frucht schlecht zu nennen, weil sie vielleicht nicht nach unserem Geschmack ist. Ein Erzieher kann durchaus voller Mitleid sein, wenn er ein Kind bestrafen muß, das sehr darunter leiden mag, wenn sein schlechtes Benehmen getadelt wird. Doch wer würde einen solchen Schmerz ein böses Geschick nennen? Und wenn ein wohlhabender Mann die Mittel verliert, um jede Leidenschaft und jede Begierde zu befriedigen, wer würde diese Veränderung als Strafe betrachten? Ich glaube, ein weiser Mensch würde es sich überlegen, irgendwelche Umstände gut oder schlecht zu nennen, er würde vielmehr in den mannigfachen Erfahrungen Gelegenheiten sehen, die allein Erkenntnis und die für das Wachstum notwendige Kraft bringen können.

Die Seele, die für einen guten Zweck lebt, akzeptiert die Umstände, in die sie als Ergebnis früherer Ursachen hineingestellt wird. Sie lernt so, bessere Bedingungen für die Zukunft zu gestalten. Wenn die Ereignisse auf ihren Wert hin mit den Maßstäben des persönlichen Nutzens beurteilt werden, so wird das ein beschränkter Standpunkt und eine Betonung des Eigennutzes sein, was alles auf ein Sondersein hinausläuft und die absolute Verneinung des Mitleids bedeutet. Für mich ist Karma Mitleid, aber das ist nicht nur ein persönliches Empfinden. Es ist die Erkenntnis der Einheit all dessen, was atmet, und daher die Wurzel menschlicher Bruderschaft. Es ist stärker noch als Erbarmen, das sich in Sentimentalität verlieren kann. Karma ist mehr als Barmherzigkeit, denn es kennt keine Grenzen für die menschliche Sympathie. Es ist die Übereinstimmung des Gefühls, das zu jenem Erwachen im Herzen führt, durch das man erkennt, daß die Freuden und Leiden der Menschheit, die Tugenden und Laster, die eigenen sind.

Der Mensch, der sich gegen die Leiden anderer verschließt und erklärt, daß dieser Schmerz eben das Los ist, was dem Leidenden zukommt, betritt den Pfad reiner Selbstsucht. Aber wer in der Wirkung des Gesetzes, wenn es dem Menschen Unglücksschläge bringt, die natürliche Frucht falschen Handelns erkennt, wird versuchen, das Gesetz zu verstehen und so in Harmonie mit der Natur zu leben, um Zwietracht, den Samen allen Elends, zu vermeiden.

Es ist notwendig zu begreifen, daß den Ursachen die Resultate folgen, wenn auch die ersteren unbekannt oder vergessen sind, oder wenn die Folgen plötzlich und anscheinend ohne von uns hervorgerufen zu sein, auf uns zukommen. Das Wesentliche ist, daß Ursache und Wirkung tatsächlich nicht voneinander getrennt werden können, wie weit sie auch auseinander liegen mögen. Außerdem hat eine Handlung sowohl für den Handelnden als auch für sein Objekt Konsequenzen. Eine Kränkung trifft letzten Endes wahrscheinlich den Kränkenden mehr, als den, der durch die Kränkung unmittelbar leidet. Karma ist in der Tat sehr verschlungen und weitreichend und kann nicht verstanden werden, wenn man zu stark auf einer mechanischen Formel besteht, die bestenfalls nur eine teilweise Auslegung sein kann.

Was den Menschen von den übrigen Geschöpfen auf Erden unterscheidet, ist das Gefühl der Verantwortlichkeit, und es gibt wenige Männer und Frauen, die nicht das Empfinden haben, für sich selbst wählen und Entscheidungen treffen zu können. Deshalb betrachte ich jedes Bekenntnis eines Glaubens an ein blindes Schicksal mit Zweifel, denn es sieht sehr nach der Absicht aus, dem Tadel und der Bürde der Pflicht oder den Verpflichtungen zu entkommen. Eine solche Philosophie, wenn man sie so nennen kann, ist für Menschen, die nicht den Mut haben, die Reaktionen auf ihre Handlungen hinzunehmen, ein "Notausgang". Das gleiche gilt für den buchstäblichen Glauben an das stellvertretende Sühneopfer, wobei stillschweigend angenommen wird, daß der Erlöser alle unsere Sorgen auf sich nehmen und uns von den Folgen unserer Irrtümer befreien wird. Das kann durchaus als unethisch und sogar unmoralisch angesehen werden, und zwar deshalb, weil durch die Zusammengehörigkeit der menschlichen Familie, das Gute des Einen, die Wohlfahrt aller ist, und die Gedanken, Worte und Taten jedes Einzelnen andere irgendwie beeinflussen müssen und es auch tun. Es ist unmöglich, sich abzusondern und deshalb ist es nicht möglich dem Karma zu entrinnen, das wir geschaffen haben. Dieses Gesetz beruht auf der Einheit des Universums und auf der untrennbaren Relation aller Teile mit dem zentralen Bewußtsein, das sich in ihnen und durch sie zum Ausdruck bringt.

Es ist die Gegenwart des göttlichen selbstbewußten Willens in uns, der, wenn er von seinem langen Prozeß des Brütens in der menschlichen Seele erwacht, es uns erlaubt, neue Ursachen, wie schwach und unvollkommen auch immer, ins Leben zu rufen und uns so wie Götter zu verhalten - wie jene, die nicht zugrunde gehen, wenn der Körper stirbt. Denn in vielen Religionen wird gelehrt, daß das wahre Wesen des Menschen durch zahllose Leben hindurch weiterbesteht, um auf Grund seiner Macht Ursachen mit ihren Wirkungen zu erzeugen, die den befreiten Geist zu einem neuen Körper hinziehen, damit die begonnene Aufgabe - die gradweise Vervollkommnung der Seele - erfüllt wird. Auf diese Weise wird die Menschheit im Laufe der Zeit diese Phasen ihrer Entwicklung durchlaufen und der Natur helfen, alle sichtbaren Formen dem göttlichen Vorbild ähnlicher zu machen.