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Gespräche am runden Tisch: Die Quellen für das Wort „Theosophie“

Fred: Darf ich, ehe wir heute Abend beginnen, eine etwas heikle Frage stellen?

Vorsitzender: Selbstverständlich. Wie könnten wir besser beginnen?

 

Fred: Warum haben wir in unseren Zusammenkünften hier nicht über Theosophie gesprochen? Ich kann mir vorstellen, daß diese Frage seltsam klingen mag, nachdem sie von jemandem kommt, dem das alles so neu ist wie mir, aber als ich kürzlich nach einem Buch suchte, das in die Richtung unserer Diskussionen über die Bhagavad-Gîtâ geht, kam ich ins Gespräch mit dem Bibliothekar der Stadtbibliothek und er empfahl mir, mich für Theosophie zu interessieren. Er sagte, er selbst wisse nicht viel darüber, und was ihren Wert anbetreffe, so gäbe es eine Menge verschiedener Meinungen darüber, und sogar einige ziemlich widerspruchsvolle Darlegungen, er glaube aber, daß eine gute Philosophie sich dahinter verberge. So wunderte ich mich, warum wir uns in den Monaten seit ich herkam, nie damit beschäftigten.

Vorsitzender: Sie haben eine Frage gestellt, die ernste Erwägung verdient. Aber lassen Sie mich zuerst einige Fragen aufwerfen. Was verstehen wir unter Theosophie? Meinen wir ihre moderne Form, die heute in den verschiedenen Organisationen oder Körperschaften, die sich theosophisch nennen, ihren Ausdruck findet? Meinen wir die Theosophie des Mittelalters oder der Renaissance? Oder gehen wir in Gedanken noch weiter zurück und beziehen uns auf die Zeit Ammonius Sakkas, der im zweiten und dritten Jahrhundert unserer Ära lebte? Meinen wir vielleicht die archaische Weisheitslehre der frühen Mysterienschulen? Oder sprechen wir, indem wir unserer eigenen Zeit näher kommen, von der Art christlicher Theosophie, die im Leben und in den Schriften Jakob Böhmes Ausdruck fand, der wiederum die Theosophen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts inspirierte?

 

Fred: Ich hatte keine Ahnung, daß es so viele Arten von Theosophie gibt, oder daß sie so weit in die Vergangenheit zurückreicht. Nun fürchte ich, daß ich selbst nicht weiß, was ich meine. Ich dachte Theosophie sei ein modernes Wort für eine neue Art Philosophie.

Vorsitzender: Nein. Theosophie ist nicht nur so eine neumodische Sache, doch unglücklicherweise betrifft vieles, was unter diesem Namen früher im Umlauf war und heute noch ist, mehr die Schalen als den Kern ihrer Philosophie. Die ganze Sache hat so viele Verzweigungen, daß wir zögerten hier eine Diskussion darüber zu beginnen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil wir zu sehr von unserem ursprünglichen Ziel, die allen Religionen und Philosophien zugrunde liegenden alten und fundamentalen Wahrheiten zu erfassen, abgelenkt werden könnten, wenn es uns nicht gelingt, durch Klärung bestimmter weitreichender Prinzipien des Denkens, eine recht umfassende Grundlage zu schaffen. Selbst wenn wir nur flüchtig einen knappen Umriss ihrer Entwicklung und ihres Wachstums, von ihrem ersten Erscheinen an, geben wollten, müßten wir ihre Quellen erforschen und dann sorgfältig unseren Weg durch das verwickelte Gewebe der verschiedenen Nebenbedeutungen verfolgen, die dem Ausdruck "Theosophie" die Jahrhunderte hindurch hinzugefügt wurden. Das Wort selbst ist mindestens zweitausend Jahre alt und möglicherweise noch älter, während seine, wenn auch beschränkte Anwendung, gut über tausend Jahre vor die Errichtung der modernen Organisationen, die diesen Namen tragen, hinausgeht, und die mit unterschiedlicher Treue ihrer ursprünglichen Bedeutung gegenüber, vorgeben, einer theosophischen Philosophie zu folgen.

 

Fred: Da scheine ich die Büchse der Pandora geöffnet zu haben!

Vorsitzender: Das haben Sie tatsächlich getan, aber wenn alle anderen einverstanden sind könnten wir vielleicht einen Anfang machen. Ich möchte nur um eines bitten, nämlich daß wir uns alle bemühen, jeden der im Umlauf befindlichen Begriffe darüber, was Theosophie ist und was sie nicht ist, beiseite zu lassen, damit wir uns eingehend mit den Tatsachen hinsichtlich des früheren Gebrauches des Ausdruckes beschäftigen können.

 

Harry: Dem stimme ich gern zu, denn so wie Fred dachte auch ich, daß Theosophie eine Art neue Philosophie oder ein neues Glaubensbekenntnis sei. Doch was bedeutet das Wort? Es klingt griechisch.

Fred: Es ist griechisch; ich habe im Wörterbuch nachgeschlagen, ehe ich hierher kam, aber die Erklärung sagte mir wenig mehr, als daß das Wort Wissen über Gott bedeutet.

Vorsitzender: Gut, laßt uns mit der Wörterbucherklärung beginnen und dann von da aus fortfahren. Ich habe eine neuere Merriam-Webster-Ausgabe, und es wird interessant sein zu sehen, was hier darüber gesagt wird.

THEOSOPHIE. Auch Theosophismus. Aus dem ML., von LGr. theosophia, Wissen über göttliche Dinge, von theosophos, weise in den Dingen über Gott. Von theos, Gott + sophos, weise...

Soviel über die tatsächliche Ableitung des Wortes. Nebenbei gesagt glaube ich nicht, daß das Wort "Theosophismus" jemals viel gebraucht wurde, wenn es auch vor etwa zweihundert Jahren gelegentlich in den Schriften gewisser "Theosophisten" erschien.

Beachten Sie die Abkürzungen: "Vom ML., vom LGr." Diese bedeuten natürlich, daß das Wort vom mittelalterlichen Latein herstammt, das wiederum vom späteren Griechisch, das heißt von dem vom ersten oder zweiten bis zum sechsten Jahrhundert n. Chr. gesprochenen Griechisch kommt. Und genau hier machen wir in Gedanken sogleich einen großen Sprung durch unser geschichtliches Mittelalter zu jenen, dem Anfang der christlichen Ära folgenden, unruhigen Jahrhunderten des Überganges. Sie können also ersehen, welch ein Unsinn es ist, unsere Diskussion über Theosophie nur auf die jetzige Zeit zu beschränken. Aber wir wollen mit den zwei Erklärungen Websters fortfahren, die den Ausführungen über die Abstammung des Wortes selbst folgen.

1. Angebliches Wissen über Gott und die Welt in ihrer Beziehung zu Gott, das durch unmittelbare mystische Einsicht, durch philosophische Spekulation, oder durch die Vereinigung von beiden erlangt wird.

2. (häufig groß geschrieben) Die Lehren und Überzeugungen einer neueren Schule oder Sekte, die in der Hauptsache buddhistischen und brahmanischen Theorien folgt, besonders indem sie eine pantheistische Evolution und die Lehre von der Reinkarnation lehrt.

 

Helen: Das klingt ziemlich verwickelt. Vor allem sehe ich nicht ein, wie jemand "Wissen über Gott" haben kann.

Dan: Die Definition sagt "angebliches Wissen über Gott"! Es sieht fast so aus, als hätte sich Webster etwas lustig gemacht, als er das schrieb! Ich möchte wissen, ob Gott in der Definition mit großen Buchstaben geschrieben ist? Anscheinend sehe ich nicht klar. Zuerst wird uns das Wort mit "Wissen über göttliche Dinge" übersetzt, was mir gefällt. Man hat kein Gefühl der Einschränkung. Aber dann wird uns gesagt, daß Theosophie "angebliches Wissen über Gott" bedeutet. Und hier fange ich sogleich an mich durch die Idee von einem persönlichen Gott, von dem angenommen wird, daß Theosophie mich über ihn unterrichtet, eingeengt zu fühlen. Vielleicht treibe ich nur Haarspalterei.

Vorsitzender: Nein, das glaube ich nicht. Sie haben da etwas angeschnitten, das wir kurz weiter verfolgen könnten. Ja, Gott ist sowohl in der Erläuterung von theosophos als "weise in den Dingen über Gott" als auch in der ersten Erklärung "angebliches Wissen über Gott, etc.", mit großen Buchstaben geschrieben. Hätten Webster und jene nach ihm, theos mit "ein spirituelles oder ein göttliches Wesen", oder einfach mit "Gottheit" übersetzt, was seine Bedeutungen zur Zeit der Griechen waren, statt sich den späteren christlichen Gebrauch des Wortes Gott anzueignen, dann wären sie der wesentlichen Bedeutung von theosophia als "Wissen über göttliche Dinge" viel näher gekommen. Nichtsdestoweniger, die Tatsache, daß sie das Wort "angebliches" einfügten, zeigt, daß sie sehr gut wußten, daß kein menschliches Wesen vollkommen "weise in Dingen über Gott" sein und noch weniger die grenzenlose Weisheit einer göttlichen Intelligenz begreifen kann, deren Erfahrung das A und O des Lebens unseres Planeten, unseres Sonnensystems und in der Tat innerhalb und jenseits unseres Heimuniversums einschließt.

Wie gesagt, behandelt die erste Definition Theosophie so, wie es in früheren Jahrhunderten verschiedentlich gehandhabt wurde, und wird mit kleinem t geschrieben. Aber die zweite, "häufig mit großen Buchstaben geschriebene" Erklärung gehört der "modernen Schule" des Denkens an, die sich theosophisch nennt. Dieser Unterschied scheint ziemlich belanglos zu sein, ist es aber nicht. Die Geschichte der menschlichen Entwicklung und des menschlichen Fortschritts hat bei richtiger spiritueller Erkenntnis immer wieder bewiesen, daß wir in dem Augenblick, in dem wir unsere Überzeugungen groß schreiben, spezialisieren und festgefügt werden. Sobald wir spezialisieren, begrenzen wir, und wenn wir begrenzen, beginnen wir gerade das Wesentliche von dem, was wir suchen, zu verlieren. In physikalischen oder in Verwaltungsangelegenheiten müssen wir eine Sache notwendigerweise genau begrenzen, um unsere Aufmerksamkeit einem besonderen Interessengebiet zuwenden zu können. Wenn wir uns aber mit "göttlichen Dingen" beschäftigen, die die wachsende innere Konstitution des Menschen und des Kosmos angehen, dann befassen wir uns mit sich entwickelnden, nicht festgefügten Prinzipien der Wahrheit, ob wir diese Prinzipien nun Buddhismus oder Christentum, Neuplatonismus oder Theosophie nennen. In dem Augenblick, in dem wir jene Prinzipien in den Rahmen der Zweckbestimmung zwängen, haben wir, wie gesagt, ihre Bedeutung auf die Form begrenzt, die unsere Definitionen annehmen. Das ist der Fall, ganz gleich, ob wir die gnosis (Erkenntnis) der gnostischen Theosophie, die theosophischen Spekulationen der jüdischen Kabbalisten oder die der Feuerphilosophen, die von Meister Eckhart, Jakob Böhme oder Saint-Martin ausgelegte christliche Theosophie, oder wiederum ihre modernen Darstellungen betrachten. Deshalb regte ich an, unsere früheren Begriffe beiseite zu lassen, damit wir unser Gebiet des Denkens erweitern und Theosophie buchstäblich als "Wissen über göttliche Dinge" betrachten. Wenn wir sie in diesem Sinne zu betrachten vermögen, werden wir begreifen, daß die Essenz reinen religiösen und philosophischen Denkens - und auch der Wissenschaft, wenn als bloßes "wissen" betrachtet, was der Sinn des Wortes ist, - jene mit einem kleinen "t" geschriebene theosophia, oder jene Qualität der "Weisheit" ist, die die größten Seher der Menschheit durch direkte Wahrnehmung der "Dinge wie sie sind" erlangten. Kurz, jedermann...

 

Dan: Darf ich gerade hier einen Augenblick unterbrechen? Wenn wir diesen letzten Gedanken weiterverfolgen, dann würde das bedeuten, daß alle Erlöser oder Weltlehrer wie Gautama Buddha und Jesus, und ich nehme an Menschen wie Plato, Konfuzius und Pythagoras, eine Art Theosophie lehrten.

Vorsitzender: Wir wollen daraus kein neues Dogma machen und sagen, daß jede Religion oder jede Philosophie Theosophie sei. Wir könnten ebensogut sagen, daß sie alle Buddhismus oder Christentum oder Mohammedanismus und so weiter sind. Trotzdem haben Sie nicht ganz unrecht, denn ganz gleich welches System religiösen oder philosophischen Denkens wir betrachten, wenn wir seinen dauernden und unvergänglichen Wert feststellen können, werden wir zu einem Mittelpunkt - zur Wahrheit - gelangen. Sie unterscheiden sich nur in ihren äußeren Gewändern, die meist eher dazu beitragen ihren essentiellen Wert zu verbergen, als ihn zu enthüllen.

Das bringt uns zu der zweiten, groß geschriebenen Definition, die sich auf die moderne, 1875 von H. P. Blavatsky gegründete Organisation bezieht, die sich bemühte, das ursprünglich von Ammonius Sakkas im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung begonnene Werk fortzuführen. Genau wie er zu zeigen versuchte, daß es nur eine Wahrheit gibt und alle Religionen ursprünglich einer, im Altertum allgemein verbreiteten 'Weisheit' entsprangen, wurde ihr zum Nachdenken herausforderndes Werk Die Geheimlehre in derselben Absicht geschrieben. Während der vergangenen 80 Jahre etwa wurde jedoch der Ausdruck Theosophie schwer mißbraucht. Es gibt verschiedene organisierte Gesellschaften und sogar einige zweifelhafte religiöse Gebräuche, die den Namen benützen und eine Lehre verbreiten, die nicht mehr und nicht weniger als eine Abweichung von der wahren Lehre ist, verbunden mit einer verlockenden Überbewertung am Rande liegender Aspekte, wie der Psychismus und andere ungesunde Erscheinungen eines Pseudo-Phänomenalismus, die alle höchst gefährliche Verdrehungen spiritueller Werte sind. Tom, Sie haben hier etwas hinzuzufügen?

 

Tom: Ich wollte nur sagen, daß das gleiche durcheinandergeworfene Wissen, wie es heute in unserer philosophischen und religiösen Anschauung, und besonders in bezug auf diese psychischen Dinge im Umlauf ist, beinahe eine Kopie dessen ist, was sich in Alexandrien ereignete, als Ammonius lebte; und das in solchem Maße, daß die Römer schon während einer vorhergehenden Periode Gesetze gegen die Ausübung der Mediumschaft, Weissagung und das Stellen von Horoskopen erließen, ja tatsächlich gegen alles, was im geringsten Grade auf die Ausübung und die Entwicklung der "okkulten Künste" hinwies.

Marie: Ich möchte gerne mehr über die früheste Anwendung des Ausdruckes Theosophie als solchen hören. Ich finde das alles fesselnd.

Vorsitzender: Den ganz genau richtigen Zeitpunkt festzustellen, wann der Ausdruck das erste Mal in Umlauf kam, ist nicht möglich, obschon ich glaube, daß das Wort "theosophos" oder "weise in göttlichen Dingen" dann und wann in den Schriften von Clemens von Alexandrien und möglicherweise auch bei anderen Kirchenvätern zu finden ist. Manche Autoritäten neigen jedoch zu der Ansicht, daß Ammonius Sakkas als erster seine Schüler in 'theosophischen' Prinzipien unterrichtete.

 

Paul: Irgendwo habe ich gelesen, daß er Ideen aus verschiedenen Quellen zusammenfaßte und eine Art eklektische Philosophie lehrte.

Dan: Sie meinen, indem er von den verschiedenen Religionen den Rahm abschöpfte und eine Art spirituellen Mischmasches schuf? Mir hat das Wort "eklektisch" nie gefallen, denn ich kann nicht einsehen, wie man zu einer gesunden Lebensphilosophie gelangen kann, indem man sie künstlich aus Teilchen und Bruchstücken aufbaut.

Vorsitzender: Wir wollen nicht vorschnell urteilen, Dan, und schließlich falsche Schlüsse ziehen. Ich stimme mit Ihnen überein, daß wir niemals die Wahrheit finden werden, wenn wir willkürlich Stücke davon sammeln und diese zusammenfügen. Das Wort "eklektisch" in diesem Sinne auszulegen ist natürlich nicht falsch, aber das ist weit entfernt von dem, was Ammonius Sakkas tat. Während sein Lehrsystem heute als "eklektisch" bezeichnet wird, befolgte er in Wirklichkeit eine dreifache Methode, um zur Wahrheit zu gelangen: Analyse, Synthese und Interpretation. Mit Plato als Grundlage war es ihm möglich, aus der damals in Alexandrien in Umlauf befindlichen zusammengewürfelten Masse mystischer und religiöser Überlieferungen die Essenz der sophia oder 'Weisheit' heraus zu destillieren. Deshalb wird er als der Genius betrachtet, der hinter der völligen Neubelebung des Interesses an der platonischen Philosophie steht, die später als Neuplatonismus, nicht nur die christliche Psychologie, sondern, durch Augustinus, selbst die Theologie der Kirche stark beeinflußt. Aber das ist eine andere Geschichte!

Ich glaube es ist schwierig, uns vorzustellen, was die fruchtbare Metropole jener frühen Jahrhunderte war. Offensichtlich war hier ein gedeihliches Zentrum für Handel und Verkehr zwischen dem Orient, Kleinasien und Rom, aber es war auch der Sitz der höchsten Kultur und Gelehrsamkeit. Das Museum mit seiner Bibliothek war besonders wegen seiner nach Hunderttausenden zählenden, unschätzbaren Manuskripte berühmt. (Ein gut Teil davon wurde, nebenbei gesagt, später durch fanatische Christen zerstört.) Hier versammelten sich sowohl Hindus, Buddhisten, Griechen, Juden, Ägypter, Römer und Araber als auch die wachsende Anzahl der zum Christentum Bekehrten und jeder war begierig, seine materiellen oder seine sogenannten spirituellen 'Waren' zu verkaufen. Und hier gründete Ammonius, als Protest gegen die Oberflächlichkeit des Lebens im allgemeinen, und gegen die Hohlheit vieler, das, was als Wahrheit verkündet wurde, seine Schule, in der er von seinen Schülern die höchste Verehrung der Wahrheit forderte. Er selbst wurde ein theodidaktos oder ein "Gott-Gelehrter" genannt, denn man glaubte, daß er die heilige "Vereinigung" der Seele mit ihrem göttlichen Ursprung erfahren habe. Die Erhabenheit seines Lebens wirkte sicherlich auf seine Schüler als eine beständige Mahnung, daß sie, wenn sie aufrichtig ein Leben der Selbstzucht leben, im Laufe der Zeit ebenfalls ein theosophos oder "weise in Dingen über Gott" werden können.

 

Marie: Schrieb Ammonius irgendwelche Bücher?

Vorsitzender: Er hat ebensowenig etwas niedergeschrieben, wie Jesus oder Buddha oder Sokrates.

 

Betty: Woher wissen wir dann, was er lehrte?

Vorsitzender: Wir wissen es, wenigstens bis zu einem beträchtlichen Grade, auf dieselbe Weise, wie wir wissen, was alle Weltlehrer, einschließlich Jesus, lehrten: indem wir zwischen den Zeilen und hinter den Worten ihrer Nachfolger lesen. Ammonius verlangte in Übereinstimmung mit dem archaischen Brauch in den Mysterienschulen, die zu seiner Zeit sehr entartet waren, von seinen Jüngern ein feierliches Gelübde, niemals niederzuschreiben, was sie erfahren würden. Nach seinem Tode verbreiteten jedoch zwei von ihnen einige Manuskripte, die teilweise die ihnen mitgeteilten Lehren enthielten. Zum Glück hatte Ammonius einen sehr beachtenswerten Menschen für sich gewonnen. Hazel, können Sie uns die Geschichte erzählen, wie Plotin dazu kam, unter Ammonius zu studieren und die Lehren später, trotz seines Gelübdes es nicht zu tun, niederzuschreiben?

 

Hazel: Nicht im Einzelnen, aber ich glaube, ich kann einen allgemeinen Umriss geben. Wie es scheint hat Plotin unter all den zahlreichen philosophischen Schulen in Alexandrien nach wirklicher spiritueller Belehrung gesucht, da er aber nichts als Schalen fand, verzagte er. Ein Freund erzählte ihm von Ammonius. Wie Porphyrios, der Lieblingsschüler Plotins, berichtet, rief Plotin, als er Ammonius hörte, aus: "Das ist der Mann, den ich suche." Er blieb etwa zehn oder elf Jahre bei ihm und konzentrierte sich so auf das innere Leben, daß gesagt wird, er habe auch Augenblicke der "Vereinigung" mit seinem Vater im Innern erlebt. Wir müssen Porphyrios dafür dankbar sein, daß er Plotin davon überzeugte, daß es, nachdem nun diese fehlerhaften, weil unvollständigen, Berichte erschienen waren, seine Pflicht sei, die wahre Auslegung der Lehre Ammonius' schriftlich niederzulegen.

Frank: Hätte er es nicht getan, so wäre es ein schrecklicher Verlust gewesen, denn Plotin scheint in der Darlegung der alten Lehre, daß alles aus dem Göttlichen oder aus theos hervorgeht, und alle Seelen, Formen und Phasen der Manifestation im Verlauf der Zeit bewußt streben müssen, zu ihrer göttlichen Quelle zurückzukehren, sogar Plato übertroffen zu haben. Das ist natürlich bei weitem nicht alles, was dazu zu sagen wäre, aber es ist gewiß leicht ersichtlich, warum die theosophia des Neuplatonismus in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Ausdruck zu finden suchte.

Helen: Ich weiß, es wird schon spät, aber ich versuche, das alles und besonders Ihre Erwähnung, daß Ammonius anscheinend eine "göttliche Einsicht" erlangte, mit Websters Definition von Theosophie als "angebliches Wissen über Gott" in Verbindung zu bringen. Ich sähe es gerne, wenn Sie die Definition noch einmal vorlesen würden.

Vorsitzender: Gerne. "Angebliches Wissen über Gott und die Welt in ihrer Beziehung zu Gott, das durch unmittelbare mystische Einsicht, durch philosophische Spekulation, oder durch die Vereinigung von beiden erlangt wird." Wir wollen das jetzt unter Berücksichtigung unserer bisher darüber geführten Diskussion anders ausdrücken und sehen, wie beachtlich zutreffend es ist: theosophia oder Wissen über göttliche Dinge in bezug auf den Kosmos und den Menschen als Ausdrücke des Göttlichen, erreichbar durch direkte spirituelle Wahrnehmung, oder durch Studium und Nachdenken, oder durch eine Ideenverbindung des durch Intuition erleuchteten Gemütes.

 

Marie: Das ist großartig. Aber wer kann das erreichen, außer Menschen wie Ammonius oder die großen Lehrer?

Vorsitzender: Sagte nicht Plato etwas darüber, daß der Seele in der Dämmerung der Zeit das Wissen über die große Idee eingeprägt wurde, womit er ohne Zweifel sophia oder 'Weisheit' meinte, und daß es an uns liegt, uns während unserer Erdenleben an dieses Wissen zu "erinnern"?

 

Helen: Und sagte nicht der Meister Jesus, daß der Vater in ihm die sogenannten Wunder vollbrachte und wir das, was er tat, auch tun könnten?

Wilbur: Das gefällt mir, denn ich kam während der Kriegsjahre mit Menschen gänzlich verschiedener religiöser Einstellungen zusammen, und wenn ich auch keine Gelegenheit hatte deren Überzeugungen zu prüfen, so wurde ich doch davon überzeugt, daß spiritueller Wert weder an Hautfarbe noch an Land oder Religion gebunden ist. Deshalb interessiert mich das so sehr, was wir heute über den Versuch des Ammonius', zu zeigen, daß es nur eine Wahrheit gibt, hörten. Ich bin der Meinung, daß es selbst für uns einfache Menschen eine Art natürlicher Weisheit geben muß, die wir finden können.

Frank: Ich glaube, daß es jene "natürliche Weisheit" in uns ist, deren wir uns zu erinnern versuchen.

Jack: Ich hätte gern schon oft gewußt, warum es keinen allgemeinen Brunnen des Wissens gibt, aus dem wir alle schöpfen könnten? Ich kann nicht begreifen, warum es so viele Religionen und so viele verschiedene Arten philosophischer Spekulation darüber geben muß, wie unsere Welt ins Dasein trat, und welche Bedeutung uns Menschen dabei zukommt.

Vorsitzender: Die Überlieferungen des Altertums bestätigen, daß einst, in der frühen Geschichte der Menschheit, allen Völkern Eine Weisheit bekannt war, aber nach und nach gewannen so viele falsche Auslegungen hinsichtlich dieses oder jenes Aspektes der Wahrheit die Oberhand, daß die periodische "Inkarnation" von Erlösern oder Avatâras unter den Menschen als notwendig erachtet wurde, um den alten Werten wieder Geltung zu verschaffen. Sie kamen nicht, um eine neue Religion zu gründen. Ihre Nachfolger taten das mit einem Eifer, der nicht immer mit der Treue dem Geist der Botschaft gegenüber übereinstimmte. Es ist dieselbe traurige Geschichte der menschlichen Natur, die die Worte der Wahrheit festzuhalten sucht, indem sie sie sehr schön in ein Buch oder Manuskript schreibt, so daß, wenn das einmal geschehen ist, nichts zu tun übrig bleibt, als es sorgfältig aufzubewahren! Allzubald haben wir dann nicht nur den Schlüssel dazu "verloren", sondern wir vergaßen ihren ursprünglichen hohen Sinn. Ehe wir uns versehen, nehmen wir die Behauptung von irgend jemandem als unser eigenes Zeugnis dafür, was wahr und was unwahr ist an! Es gibt nur eine Wahrheit, aber es gibt so viele "Wahrheiten" oder Ausdrücke "göttlicher Dinge", als es Menschen gibt, die ihre Erkenntnis durch das Prisma ihres eigenen individuellen Bewusstseins widerspiegeln.

 

Betty: Das könnte die Erklärung dafür sein, warum wir in den großen Religionen so viele Berührungspunkte finden. Natürlich gibt es sowohl in der Psychologie als auch in der Lehre über die Entwicklung Unterschiede. Doch ich erinnere mich, wie beeindruckt ich davon war, als ich an der Universität Vorlesungen über Vergleichendes Religionsstudium hörte. Damals war ich noch nicht viel gereist und wußte wenig über andere Völker, aber der Professor, den wir hatten, war ein erstaunlicher Gelehrter, was die Upanishaden und auch die alten griechischen und römischen Schriften anbetraf, und er bezog sich mehr als einmal auf einen "goldenen Faden" der Wahrheit. Er nannte ihn den "Ariadne"-Faden der Wahrheit, der uns, wie er sagte, durch den Irrgarten der vielen Auslegungen führen könnte.

Vorsitzender: Es gibt tatsächlich einen "goldenen Faden" der Wahrheit, der die ältesten Formen des Glaubens mit der Gegenwart verbindet und das spirituelle Erbe jeder Nation und jeder Rasse mit jenem Funken Göttlicher Intelligenz verknüpft, der im Herzen eines jeden Menschen wohnt.

Die Zeit ist viel zu schnell vergangen und wir haben den Gegenstand unserer Diskussion nur oberflächlich berührt. Doch...

 

Fred: Könnten wir die Diskussion nicht ein andermal wieder aufnehmen und uns vielleicht über einige der späteren Formen der Theosophie unterhalten, die Sie am Anfang erwähnten?

Vorsitzender: Es würde mehr als einen Abend in Anspruch nehmen, das Ganze auch nur annähernd richtig zu behandeln, aber wenn Sie daran interessiert sind, es in der von uns eingeschlagenen allgemeinen Art zu studieren, so glaube ich, daß wir mit der Diskussion über diese "Weisheit göttlicher Dinge" die Zeit gut angewendet zusammen verbringen könnten.