Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Der unsterbliche Mensch ist von Dauer

Der Mensch ist bemüht, herrliche Monumente der Kunst und Architektur zu schaffen, neue Mittel für seinen Komfort zu ersinnen und begeisternde Werke zu erzeugen und immer glaubt er, daß er sich der Ruhe hingeben könne, wenn sein Ehrgeiz befriedigt ist. Aber die Natur lächelt hinter ihrem Schleier und flüstert ihm zu, daß der Zweck in der Anstrengung liegt. Jeder stirbt zu seiner festgesetzten Zeit oder leider schon vorher und was bleibt von ihm übrig? Ganze Nationen, selbst ganze Rassen verschwinden von der Erdoberfläche und ihre materiellen Errungenschaften, wie erhaben sie auch sein mögen, werden wie ein glitzernder Eispalast von der Zeit weggewischt. Aber über ihre Größe werden genügend Berichte aufbewahrt, um künftigen Rassen über ihre Geschichte zu erzählen und um die Aufzeichnungen über die Pilgerschaft des Menschen lückenlos zu erhalten.

"Das Universum existiert um der Erfahrung der Seele willen", heißt ein alter Grundsatz. Wer ist also der Mensch und was steht hinter ihm? Die Natur wirkt auf die niederen Formen des Lebens ein: Eine höhere Macht als der Stein hat ihm Form gegeben; die Bäume, die Blumen, selbst die Insekten und Tiere sind plastisches Material in den Händen des Großen Töpfers. Durch ihn wurden vor undenklichen Zeiten die menschlichen Körper geformt. Der Mensch betrat den für ihn vorbereiteten Tempel und die Natur, die bisher das Höchste war, verneigte sich nun vor dem Mysterium. Sie sieht vor sich nicht allein den zu gestaltenden Welt-Stoff, sondern auch den wahren, schöpferischen Funken. Nicht länger kann sie ohne Unterstützung arbeiten. Ihre Tätigkeit besteht nun darin, dem eintretenden Menschen, der die herkulische Aufgabe hat, das menschliche Gemüt zu entwickeln, die passenden Gelegenheiten zu verschaffen. Keine von außen kommende Macht kann den Menschen allein bilden. Der schöpferische Same liegt in ihm selbst. Jedes Ereignis, jede Tatsache ist etwas, dem er gegenübertreten muß und das er selbst verursacht hat, er, der Schöpfer seines eigenen Schicksals. Ob unwissend oder bewußt, er arbeitet in dem grenzenlosen und unerschöpflichen Laboratorium der Natur, und in dieser Hinsicht gestaltet sich langsam aber sicher der Charakter.

Diese hohe Bedeutung würde schon genügen, wenn die Resultate in Zeit und Raum begrenzt wären. Wenn man aber bedenkt, daß sie für Böses oder Gutes und für alle Zeiten wirksam sind, so fehlen die Worte, um die Tragweite zum Ausdruck zu bringen. Denn die Notwendigkeit der Charakterbildung ist etwas, dem niemand zustimmen kann, nicht einmal für einen Augenblick. Jeder Augenblick, sei er augenscheinlich aktiv oder passiv, formt den Charakter. Das ist eine der unvermeidlichen Tatsachen der Natur. Jeder Gedanke hinterläßt seinen Eindruck, jeder Atemzug führt seinen Einfluß mit sich und macht die Persönlichkeit von heute verschieden von der gestrigen. In schwierigen wie in sorglosen Augenblicken, ob man für sich selbst oder für jemand anderen bemüht ist, immer sind die geheimen Motive in der Hand ihres Meisters, dem Menschen, am Werk, wie Werkzeuge von hochgradiger Präzision und meisseln an dem unzerstörbaren menschlichen Gemüt und reinigen, klären und bereichern es oder sie verdunkeln, erniedrigen und verderben es.

Diese Charaktereigenschaften mögen manchmal unwirksam erscheinen, aber unter dem Einfluß des Impulses kommen sie alle in kritischen Augenblicken, in entscheidenden Perioden des Lebens zum Vorschein, um dem Ausgang das Gepräge zu verleihen. Mit unwiderstehlicher Kraft verschaffen sie sich Geltung. Der Handelnde erschrickt und fragt mit Entsetzen: "Bin wirklich ich es gewesen, der dieses tat?" - Vielleicht steht er aber auch in Ehrfurcht und Dankbarkeit da und dankt der wohltätigen Macht, die durch ihn wirkte. Da unsere Zivilisation nur das Ergebnis des Nationalcharakters, das Resultat des Gesamtcharakters der Einzelnen ist, können alle Reformen, gleich welcher Art, ausgenommen die Reformation des Charakters, keine dauernden Resultate im Gefolge haben. Das bestreitet niemand. Es ist ein Jammer, daß, während niemand etwas gegen die Reformation anderer einzuwenden hat, wenige von uns willens sind, mit dieser Reformation bei sich selbst zu beginnen. Welche Gesetze wir auch immer erlassen mögen, sie können umgangen werden, welche Schlichtungssysteme wir auch ersinnen mögen, sie können durch die gleichen Kräfte, die ihr Erscheinen notwendig machten, unwirksam gemacht werden. So lange Unbrüderlichkeit im Herzen wohnt, muß der Streit unter den Menschen an Heftigkeit zunehmen. So lange unsere Selbstsucht die Habgier erzeugt, werden Kriege eine ständige Möglichkeit bleiben.

Einmal jedoch wird es den Menschen gelingen, die Wahrheit zu entdecken, wie sehr sie auch im Dogma oder Glaubensbekenntnis verborgen sein mag. Der Mensch wird weite Ausblicke des Glanzes und ungeträumter Schönheit finden. Diejenigen, die die Wahrheit meiden, lieben sie nicht und greifen sie mit aller Schärfe an; denn die Wahrheit wirft die Schalen ab und bringt den inneren Kern zum Vorschein. Sie enthüllt die Vampire des Lasters und der Korruption, die an dem Herzen des nationalen und des individuellen Lebens zehren und reißt ihre erborgten Gewänder der Reinheit in Stücke.

Mit dem Durchdringen der Erleuchtung wirft die Natur ihre Maske ab und läßt erkennen, daß es nicht an einer ihrer äußeren Manifestationen liegt, daß ihr geheimes Herz verborgen ist. Alle Manifestationen können in einer Nacht verschwunden sein, während das, wovon sie die Blüte sind, unberührt bleibt. Ebenso können menschliche Gesetze erlassen und wieder vergessen werden; Tempel können erstehen und wieder zerfallen: ganze Rassen mögen ihren Anteil an Sorgen, Verzweiflung und Freude durchschreiten und dann untergehen. Kontinente mögen aufsteigen und versinken, aber der Charakter, durch den alles geformt und gefärbt wurde, der Charakter als ein Teil des Menschen, des unsterblichen Menschen, ist von Dauer.